Meine eineinhalbjährige Odyssee
Hätte ich vorher gewusst, dass eine globale Pandemie die Welt ins Chaos stürzen und mich eineinhalb Jahre Durchhaltevermögen, zahlreiche Rückschläge und unzählige Nerven kosten würde, bis ich endlich nach Taiwan einreisen dürfte – keine Ahnung, ob ich das mit dem Auslandssemester durchgezogen hätte.
Zum Glück wusste ich es nicht. Und so freute ich mich Anfang 2020 sehr darüber, mir als Jahrgangsbeste meine gewünschte Uni für das Auslandssemester frei aussuchen zu können. Unter den etwa 20 Partneruniversitäten des MCI, die zur Auswahl standen, fiel meine Wahl auf die National Taiwan University of Science and Technology, kurz NTUST oder Taiwan Tech.
Ein paar Tage später kam die Nominierungsbestätigung, und bis Ende April hatte ich den Bewerbungsprozess abgeschlossen. Parallel bewarb ich mich für vier verschiedene Stipendien, um den Auslandsaufenthalt finanzieren zu können.
Und damit begann die Odyssee.
„Congratulations on your admission to Taiwan Tech! As of today, Taiwan has not lifted its travel ban for foreign nationals, so that you will not be able to enter Taiwan until further notice…“
Juli 2020: Ich erhielt die Zusage der Taiwan Tech. Wenig später kam zu meiner großen Überraschung und Freude die Nachricht, dass ich alle vier Stipendien, um die ich mich beworben hatte, bekommen würde.
August 2020: Weltweit spitzte sich die Situation mit COVID-19 zu, sodass Taiwan letztendlich sämtliche Austauschprogramme absagte. Die Regierung setzte von Anfang an – sehr erfolgreich – auf Abschottung, um dem Virus Einhalt zu gebieten, und die Einreise zehntausender StudentInnen schien ein zu großes Risiko zu sein. Ich war sehr enttäuscht und beschloss nach reiflicher Überlegung, mein Masterstudium zu unterbrechen, um es zum nächsten Semester noch einmal versuchen zu können.
November 2020: Ich durchlief das Bewerbungsprozedere zum zweiten Mal und wure erneut angenommen. Wenig später bekam ich eine Nachricht des Österreichischen Austauschdienstes, über den ich mein wichtigstes Stipendium lief: Die Einreisebeschränkungen würden gelockert, und die Chancen auf ein Sondervisum für StipendiatInnen stünden gut. Sogar ein Flugdatum für Anfang 2021 stand schon fest!
Dezember 2020: Doch dann tauchte die Virusmutation in Großbritannien auf und führte weltweit zu neuer Unruhe. Taiwan ging auf Nummer sicher und schloss seine Grenzen erneut vollständig. Diese Nachricht erreichte mich zu Silvester – ein äußerst deprimierender Start ins neue Jahr.
März 2021: Gemäß dem Motto „Aller guten Dinge sind drei“ wollte ich mich ein weiteres Mal bewerben. Doch diesmal ging das nicht ohne weiteres: Im Rahmen des Partnerprogramms beider Universitäten stand jedes Jahr nur ein einziger Studienplatz an der Taiwan Tech zur Verfügung, und meiner war (trotz des meines Erachtens eindeutigen Falls von höherer Gewalt) inzwischen verfallen. Der folgende Jahrgang rückte nach, und so musste ich erneut ins Auswahlverfahren und mit ihm konkurrieren. Doch erneut hatte ich den besten Notenschnitt und gewann so meine Nominierung zurück.
Wenig später erreichte mich eine E-Mail der Taiwan Tech: Die COVID-19-Situation auf der Insel sei nach wie vor stabil. Seit Beginn der Pandemie lag die Zahl der täglichen Neuinfektionen stets im niedrigen einstelligen Bereich, teils wochenlang sogar bei Null. Daher habe die Regierung nun einer Grenzlockerung zugestimmt. OeAD-StipendiatInnen wie ich dürften ab sofort wieder einreisen.
Das Semester hatte jedoch bereits begonnen. Mit dem aufwändigen, bürokratischen Einreiseprozess sowie den zu dieser Zeit verpflichtenden 23 Tagen Quarantänezeit wären sogar die Mittsemesterprüfungen bereits gelaufen gewesen, bis ich tatsächlich den Campus betreten dürfte. Daher rieten mir beide Unis von meiner überstürzten Zusage ab – mein Platz im Wintersemester 2021 sei schließlich bereits reserviert. Im Herbst könnte ich in aller Ruhe, pünktlich und in geordneter Manier, in mein Auslandssemester starten. Tja…
COVID-19 is what happens while you are making other plans.
Mai 2021: Schlagartig war es vorbei mit Taiwans sorgen- und nahezu coronafreier Zeit. Nachlassende Vorsicht und einzelne Löcher im Quarantänesystem hatten dazu geführt, dass sich lokale Cluster – verursacht durch einige Piloten, ein Quarantänehotel und eine Spielhalle – ausbreiten konnten. Die Zahl der lokalen Neuinfektionen stieg zuerst auf über 100, 200, 300… Ein Schock für das Land, das – auch aufgrund politischer Intervention seines Nachbarn – so gut wie keinen Impfstoff hatte. Lockdown-Level drei von vier wurde ausgerufen. Unnötig zu erwähnen, dass die Grenzen wieder komplett dicht waren.
Juni 2021: In den folgenden Wochen und Monaten begann jeder Morgen für mich mit einer Google-Suche nach den neuesten Infektionszahlen, Impfstatusupdates und Restriktionsbestimmungen in Taiwan. Täglich verfolgte ich die taiwanischen Nachrichten, hoffte und zitterte, ob die Einreise bald wieder möglich sei. Für einen pünktlichen Semesterstart und mit der nötigen Vorlaufzeit für die Quarantäne müsste ich spätestens Ende August einreisen. Zudem war dieser dritte auch mein letzter Versuch – noch länger würde ich mein Masterstudium nicht aussetzen können. Wenn es diesmal nicht klappen würde, wäre es das gewesen. Mit meinem Traum vom Auslandssemester wären auch Tausende Euro an Stipendiumsgeldern verloren gewesen. Entsprechend stark zerrte die Ungewissheit an meinen Nerven.
Juli 2021: Über meine tägliche Nachrichtenlektüre stieß ich auf einen Leserbrief, der ebenso gut von mir selbst hätte stammen können: Yasemin Eroglu, eine Studentin aus Berlin, wartete wie ich seit eineinhalb Jahren auf ihre Einreise nach Taiwan und drückte darin ihre Hoffnung aus, dass diese für geimpfte Student:innen bald wieder möglich sein würde. Der Brief wurde sogar von einem bekannten YouTuber aufgegriffen, der den Appel unterstützte. Ich vernetzte mich mit Yasemin und hatte in ihr fortan eine Mitkämpferin und Leidensgenossin.
August 2021: Obwohl der Ausbruch eingedämmt war und sich die Zahl der lokalen Neuinfektionen wieder stabil im einstelligen Bereich bewegte, wurden die Restriktionen – und damit die Grenzschließung – alle zwei Wochen erneut verlängert. Doch plötzlich gab es Hoffnung: Das Bildungsministerium kündigte an, dass 13.000 internationale StudentInnen eine Einreisegenehmigung zum Wintersemester erhalten würden. Der Haken: Nur die, die ein ganzes Studium in Taiwan absolvieren würden oder im Besitz des Huayu Enrichment Scholarships wären. Wenn diese angekommen wären, würde das Ministerium über andere Internationale nachdenken, wie uns AustauschstudentInnen.
Nichts unversucht lassen: Petition an die taiwanische Regierung
Yasemin und ich entschlossen uns zu einer letzten Verzweiflungstat: Gemeinsam verfassten wir eine Petition an das taiwanische Bildungsministerium, in der wir darum baten, Student:innen – selbstverständlich unter Einhaltung aller Quarantäne-Auflagen – die Einreise zum Wintersemester zu erlauben – zumindest denjenigen, die voll geimpft waren und für die es nach eineinhalb Jahren des Wartens die letzte Chance war. Trotz mehrerer hundert UnterstützerInnen, darunter auch zahlreiche aus Taiwan, haben wir nie eine Antwort erhalten.
Am 18. August kam die Nachricht der Taiwan Tech, dass das Austauschprogramm offiziell gecancelt sei. Aus der Traum. Ich war fertig. Aber ehrlichgesagt auch ein bisschen erleichtert, dass das quälende Warten und die nervenzermürbende Unsicherheit endlich ein Ende hatte.
Dachte ich zumindest.
September 2021: Am Morgen des 3. Septembers – ich hatte in dieser Woche mit meiner Hochschule geregelt, mein Studium ab Oktober in Innsbruck fortzusetzen – schaute ich halbverschlafen in meine Emails.
„Greetings from Taiwan Tech!
Today I received an official document from our government and I’m happy to inform you that the students under the Taiwan-Austria special project could come to Taiwan this semester. May I ask whether you wish to join us accordingly?”
Schlagartig war ich wach. Telefonierte mit meiner Ansprechpartnerin in Taiwan, meiner Ansprechpartnerin am MCI, dem Österreichischen Austauschdienst und der Taipeh-Vertretung in München. Es stimmte tatsächlich: Erneut könnte ich aufgrund eines meiner Stipendien eine Sondereinreisegenehmigung bekommen.
Doch die Hürden wären ähnlich wie im Frühjahr: Ein extrem aufwändiges bürokratisches Einreiseprozedere, in das zwei Unis in drei Ländern, zwei Stipendienstellen, drei Botschaften und taiwanische Ministerien involviert wären und das zahlreiche Nachweise und Unterlagen erfordern würde – zum Beispiel einen Lungenröntgenscan und eine Quarantäneplatzzusage, um nur zwei Beispiele zu nennen. Mit dessen Dauer plus den drei Wochen Quarantäne wäre es auch dieses Mal wieder Mitte des Semesters, bis ich den Campus betreten würde. Bis dahin müsste ich die Vorlesungen an der Taiwan Tech aber bereits online verfolgen, bei sechs Stunden Zeitunterschied.
Am selben Tag las ich in den taiwanischen Nachrichten, dass es wieder eine kleine Clusterinfektion in einem Kindergarten und Markt gegeben hatte. Was, wenn ich, wie vergangenes Jahr, die Einreiseerlaubnis im letzten Moment wieder verlieren würde? Was, wenn ich einreiste und dann ein neuer Lockdown verhängt wurde, während in Deutschland langsam die Freiheiten zurückkamen? Was, wenn ich – allein im fremden Land – kaum das Haus verlassen dürfte und möglicherweise durch eine Uniprüfung fallen würde? In diesem Fall würde sich mein Abschluss um ein ganzes weiteres Jahr verzögern, ein hohes Risiko.
Fast wünschte ich, ich hätte die E-Mail nie erhalten; hatte ich mit dem Thema doch endlich abgeschlossen gehabt. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. In einem Telefonat mit meiner Ansprechpartnerin am MCI, die mich fragte, was ich denn tun möchte, brach ich in Tränen aus – „Ich will einfach nur, dass das endlich aufhört; ich will endlich wieder Ruhe und Sicherheit in meinem Leben!“
Doch wie heißt es so schön? Im Leben bereut man selten, was man getan, sondern das, was man nicht getan hat. Und was für ein Ende wäre es nach allem, was ich in den letzten eineinhalb Jahren durchgestanden hätte, wenn ich auf den letzten Metern aufgeben würde?
Ich biss die Zähne zusammen und kämpfte mich wochenlang durch bürokratische Hürden und Rückschläge. Ich füllte zig Formulare aus, vermittelte zwischen taiwanischen, deutschen und österreichischen Stellen, reichte Impfnachweise ein, kümmerte mich um Flug, Hotel, Finanzierung und Versicherungen, ließ meine Lunge röntgen und setzte mich um drei Uhr nachts an den Computer, um einen Industrial Internet of Things Kurs auf der anderen Hälfte des Globus verfolgen zu können…
Oktober 2021: Bis zur letzten Minute rechnete ich damit, dass wieder etwas schief würde und ich am Ende doch wieder nicht einreisen könnte. Doch am 25. Oktober war es so weit: Vom Münchner Flughafen aus flog ich zunächst zweieinhalb Stunden nach Istanbul, dann weitere elf Richtung Taiwan.
Nach zwanzig Monaten des Wartens landete ich am 26. Oktober um 17:00 Uhr am Taiwan Taoyuan International Airport. Das Abenteuer begann.
Im Leben bereut man selten, was man getan, sondern das, was man nicht getan hat.
Was für ein toller Satz.
Alles Gute weiterhin